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Dieses Modell haben wir auf unserem Resilienz Co:Lab gemeinsam entwickelt, als es um die Frage ging, wie wir uns Momente des Innehaltens – oder Safeguards (Wächter*innen) – in unsere Strukturen einbauen können, um zu bemerken, in welchem Tempo wir unterwegs sind und ob das noch gut tut. Und um Momente der Reflexion zu ermöglichen, die uns bewusst machen können, ob wir wichtige Aspekte unseres Seins und Wirkens gerade übersehen.


Wir brauchen Momente des Innehaltens – damit wir uns erinnern, dass wir Limits haben, selbst wenn wir gerade im (vielleicht sogar begeisterten) Strudel unserer Wirksamkeit schwimmen.

Wir brauchen Momente des Innehaltens – damit wir uns trauen, in anderen Momenten ganz in unsere Kraft zu gehen. Damit wir nicht die ganze Zeit ängstlich und weit entfernt unserer Kapazitätsgrenzen herumschleichen, um ja nicht unsere Selbstfürsorge zu verpassen.

Und wir brauchen Praktiken und Gewohnheiten, die uns helfen, wieder mehr in unsere Mitte zu finden wenn wir mal zu vorsichtig oder zu schnell geworden sind.


Das Modell macht deutlich, dass jede Richtung ihre Potenziale und ihre Grenzen hat. Schnell, langsam, allein oder gemeinsam. 

In der Mitte bewegen wir uns im grünen Bereich. Dort gibt uns das, was wir tun, vielleicht sogar mehr Energie, als wir reingeben – wir gehen genährt und inspiriert nach Hause und unsere Beziehungen zueinander und zur Mehr-Als-Menschlichen-Welt werden tiefer, lebendiger. Weiter außen, im gelben Bereich, ist vielleicht mal mehr Anstrengung dabei, aber wir könnten unsere Arbeit noch lange tun, ohne auszubrennen.
Und dann gibt es da eine Grenze, mit der wir spielen können und die ein paar Erinnerungen und Gewohnheiten braucht, um wieder mehr zu unserer Mitte zurückzufinden. Denn wenn wir zu lange darüber hinaus agieren, verlieren wir den Kontakt zu dem, was wirklich möglich und nachhaltig ist. Dann sind wir im roten Bereich.

Die vier Richtungen

Langsam
Langsam ist eine lauschende, innehaltende Richtung. Dort sorgen wir für Weite und handeln bedacht. In seiner extremeren Form kann diese Richtung dazu führen, dass wir uns ewig vorbereiten aber nicht ins Handeln kommen. Wir können träge und schwer werden und uns auf der Suche nach “dem perfekten” Weg verlieren.

Allein
Allein ist die Richtung der Autonomie und Freiheit. Sie schenkt uns Spontanität und ein Gefühl, Dinge auch allein gut meistern zu können. Weiter außen kann das Allein-Sein sich eher abgetrennt anfühlen. Dort können wir Zusammenhänge vielleicht nicht mehr so klar sehen und in unsere Entscheidungen mit einbeziehen. Hier finden sich auch hyper-individualistische Muster wieder.


Schnell
Schnell ist die Richtung von Flow und Vorwärts-Kraft. Hier können Dinge plötzlich ganz schön schnell gehen und von sehr viel Lust und Freude – oder auch Überforderung und Stress – begleitet sein. Wenn wir zu schnell werden, kann es passieren, dass wir wichtige Schritte übersehen oder den Kontakt zu unserem Körper und unseren Kapazitäten verlieren und unseren To-Do’s hinterher rennen.

Gemeinsam
Gemeinsam ist die Richtung der Kooperation. Hier fühlen wir uns eingebettet und unterstützt und können viele Perspektiven in unser Handeln einbeziehen. In seinen extremeren Formen kann es aber auch passieren, dass wir unsere eigenen Grenzen nicht mehr spüren, weil wir mit unserer Gemeinschaft/ unserem Kollektiv verschwimmen und nur die größeren Ziele verfolgen, ohne unsere eigenen Bedürfnisse einzubringen. Oder, dass wir als Gruppe nicht mehr handlungsfähig sind, weil immer alle Stimmen gehört werden müssen, bevor sich etwas bewegen darf.

Die vier Quadranten – Merkmale und Safeguards


Langsam – Allein
Wenn es zu langsam und allein wird, werden wir depressiv. Wir ziehen uns in unsere Höhle zurück, werden hoffnungslos und grau. Dass wir zu weit in dieser Richtung sind, können wir an verschiedenen Merkmalen erkennen: Ewig ungespültes Geschirr, keine Lust, morgens aus dem Bett zu steigen, eine Trägheit vor die Tür zu gehen, obwohl uns das eigentlich gut tun würde. Gefühle von Isolation und Resignation begleiten uns.
Safeguard-Praxis: Es kann hier gut tun, über “kleine” Dinge wieder ein Gefühl von Sinn ins eigene Leben zu holen: Pflanzen gießen, für andere etwas backen, sich um Tiere kümmern, Community-Dienste übernehmen… Es kann gut tun, Fühl-Räume zu suchen, in denen gemeinsam auf das Leid in der Welt geschaut wird und wir bemerken können, dass wir mit vielen Gefühlen nicht allein sind.

Allein – Schnell
In diesem Quadranten erleben wir Burn-Out wenn wir zu weit nach außen wandern. Die Angst und Unfähigkeit, Aufgaben zu delegieren, die Kontrolle und den Überblick zu verlieren, können dazu führen, dass wir unendlich lange To-Do-Listen haben und von einem Treffen zum nächsten rennen. 

Safeguards-Praxis: Tanzen, Joggen, in der Erde wühlen… alles, was dem Körper Ausdruck verleiht und Erdung bringt, kann hier hilfreich sein. Und regelmäßige, im Kalender eingetragene, Pause- und Offline-Zeiten, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Ein (gemeinsam entschiedener) Offline-Tag in der Woche, kann ermöglichen, sich anderen Dingen zuzuwenden.

Schnell – Gemeinsam
Immer wieder kommt es vor, dass wir uns als Gruppen oder Kollektive in hoher Geschwindigkeit verlieren. Auch der Kapitalismus unterliegt dieser Logik – immer höher, weiter, schneller! In aktivistischen Kontexten können Idealismus und Gruppen-Druck dazu führen, dass wir uns mehr von der Welt entfernen, die wir eigentlich kreieren wollen, indem wir einander weniger als Menschen wahrnehmen, sondern immer mehr als “Aktivismus-Maschinen, die alles richtig machen müssen” begreifen. Wer nicht genug für den Wandel tut, gehört nicht mehr dazu.

Safeguards-Praxis: Hier kann es hilfreich sein, gemeinsam Filme zu gucken oder Artikel zu lesen, die bewusst andere Perspektiven einladen – andere Formen von Aktivismus kennenlernen. Es kann helfen, zu üben, trotz unterschiedlicher Meinungen in Verbindung zu bleiben und die darunter liegenden Bedürfnisse zu erkennen. Einander darin zu unterstützen Pause zu machen oder sich auch mal für gemeinsames Kochen, Feiern oder Malen zu verabreden, ohne dabei politische Gespräche führen zu müssen, kann gut tun.

Gemeinsam – Langsam

In diesem Quadranten findet sich oft eine Form von politischer Correctness wieder, die mit viel Scham und Schuld einhergeht – mit großer Vorsicht und der ständigen Angst, irgendetwas falsch zu machen, andere zu verletzen oder auszuschließen. Bewusstsein für Diskriminierung und die Wichtigkeit, Dinge wirklich gemeinsam zu entscheiden, ist eine große Errungenschaft politischer Bewegungen und das Bewusstsein für diese Themen wächst immer mehr. Gerade wenn Menschen sich neu mit diesen Thematiken beschäftigen, kann jedoch eine Form von Dogmatismus und Rigidität entstehen, die dazu führt, dass Menschen sich nicht mehr trauen, unangenehme Dinge anzusprechen oder ihren lebendigen Impulsen zu folgen. Es ist dann kaum noch möglich, gemeinsam, schnell und effektiv Entscheidungen zu treffen oder ins Handeln zu kommen, weil immer alle Bedenken und Gefühle gehört werden müssen und jeder Schritt unzählige Feedbackschleifen durchläuft.
Safeguards-Praxis: Hier kann es hilfreich sein, zwischen Safer Spaces und Braver Spaces zu unterscheiden – also explizite Räume für diejenigen zu schaffen, die gerade besonders viel Schutz brauchen und gleichzeitig in anderen Räumen mehr auf Mut, Fehlerfreundlichkeit und gegenseitiges Ansprechen von Verletzungen ohne Beschämung zu setzen. Es kann auch helfen, sich als Gruppe Zeit für gemeinsame Bildungstage zu nehmen.

Hier noch ein paar verschiedene Möglichkeiten, wie du das Modell für dich nutzen kannst: 


Zur Selbstreflexion
Male dir das Modell auf ein Blatt Papier und schau es dir an: wo befindest du dich gerade? Schreibe deine eigenen Kompetenzen und Methoden in die vier Quadranten – die Dinge, von denen Du weißt, dass sie dir gut tun und helfen, wenn du mal über deine Grenze hinaus gehst. Außerhalb der äußeren Linie kannst du die Merkmale aufschreiben, an denen du erkennst, dass du über deinen Grenzen bist. Du kannst dich dafür auch von den Beschreibungstexten inspirieren lassen.

Mit deiner Gruppe
Du kannst damit auch Aufstellungen mit einer Gruppe machen: Schreibe dafür die Richtungen auf Blätter und lasse die Gruppe ein bisschen herumgehen und die verschiedenen Qualitäten spüren. Dann stellt einander Fragen, verortet euch dazu auf dem Modell und sprecht darüber, wieso ihr dort steht, wo ihr steht.
Hilfreiche Aufgaben/ Fragen können sein:
– Wo stehst du gerade individuell in deinem Wirken und wieso?
– Wo siehst du uns als Gruppe und wieso?
– Welche Routinen würden dir/ uns gut tun? Was würden wir gerne gemeinsam verändern? 

– Welche Qualitäten sind in unserer Gruppe über-/ unterrepräsentiert?

Ihr könnt auch drei Runden machen, um verschiedene Zeiten eures Lebens abzubilden.
– Wo warst du vor ein/ zwei / drei Jahren?
– Wo stehst du jetzt?
– Wo möchtest du dich hin entwickeln und welche Praxis kann dir dabei helfen/ was brauchst du dafür von den anderen? 

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Post zu lesen. Du bist eingeladen, uns deine Gedanken dazu zu schicken oder das Modell so abzuwandeln, wie es für deinen Kontext stimmig ist.